Sehnsucht

Sehnsucht

Vor einigen Jahren schrieb ich eine Kurzgeschichte für einen Wettbewerb einer Zeitung mit dem Thema Sehnsucht. Mein Beitrag gewann nicht, gesucht war eine andere Art von Sehnsucht. Aber welche Sehnsucht ist grösser als die nach dem Leben?

Gerade noch erhasche ich einen letzten Blick goldenen Sonnenlichts, bevor die lebensspendende Kugel hinter dem Hügel zur Nachtruhe niedersinkt. Es ist nur der Hauch eines Blickes, denn mehr ertragen meine Augen nicht, sonst würden sie vom Licht geblendet und ich wäre in noch undurchdringlicherer Finsternis gefangen als der jenes sanften, grauen Schleiers der Nacht. Nur entfernt erinnere ich mich noch, wie es war, unter den erhellenden Strahlen zu wandeln und ihre Wärme auf meiner Haut zu spüren. Zu lange ist es her, dass ich zu den Lebenden gehört und die lichtvollen Stunden des Tages mit Geschäftigkeit gefüllt habe. Damals wusste ich nicht, wie kostbar jene Augenblicke voller Licht und voller Farben sind. Unbeachtet zogen sie an meinem Streben nach einem höheren Ziel vorbei, verdrängt durch meinen Ehrgeiz und die arrogante Selbstbehauptung meines Erfolges. Nie war das Erreichte gut genug, stets verlangte mich nach Besserem. Und als ich dachte, es gefunden zu haben, in meiner Vermessenheit, da raubte mir das meistbegehrte Ziel all meine unerkannten Schätze. Unter mir eilen ein paar Sterbliche die Strassen entlang. Hetzen ihren kleinen Nichtigkeiten hinterher, die ich einst als so lästig empfand und um die ich sie nun so sehr beneide. Sie wissen nicht, was es bedeutet, in der Sonne zu wandeln. Sie ahnen nicht, wie verlockend selbst eine so alltägliche Tätigkeit wie das Essen auf mich wirkt. Tausende von verschiedenen Reisen erleben sie tagtäglich allein durch ihren Geschmackssinn und bemerken es nicht. Jetzt, da ich fähig bin, sie wahrzunehmen, jede einzelne Komponente eines meisterhaft zubereiteten Menüs oder auch eines einfachen Stückes Brot, bin ich doch jeglichen Geschmacks beraubt, und Ekel befällt mich nur schon beim Geruch von Speisen. Einzig die Essenz ihres flüchtigen Lebens schenkt mir einen kurzen Augenblick der Wonne, wenn ich nicht nur ihre Erlebnisse, ihre sonnigen Tage, sondern auch ihre Wärme durch meinen kalten Körper strömen fühle. Mich schaudert. Wenn ich weinen könnte, würde ich nun eine Träne vergiessen, doch auch dies bleibt mir auf immer verwehrt. Ich habe erreicht, wonach viele noch vergebens trachten, und bin unsterblich geworden. Die Süsse dieses Erfolges liess mich eine ganze Weile vergessen, welchen Preis ich dafür zu zahlen habe. Bis es zu spät war. Wie bitter schmeckt diese Erkenntnis. Oh, wie ich mich danach sehne, nur einen einzigen Augenblick im Angesicht der Sonne zu stehen und einen simplen Apfel zu kosten. Wie verlangt es mich nach den einfachen Kleinigkeiten, denen ich einst mit solcher Gleichgültigkeit begegnete. Ich begehre nichts sehnlicher, als am Leben zu sein, und sei es nur für eine einzige Stunde. Das Verlangen danach brennt in mir wie ein lodernder Feuersturm und treibt mich immer wieder in die Nähe der Menschen. Ihnen nahe zu sein, sie zu beobachten, ihrem Herzschlag zu lauschen und sich vorzustellen, wie sich eine liebevolle Berührung anfühlen würde, ist ein unstillbares Bedürfnis. Es ist nie genug. Ich kann Ihnen nicht gleich werden, und so harre ich im Verborgenen, auch wenn mich der Schmerz darüber, dass sie für mich unerreichbar bleiben, innerlich verzehrt und aushöhlt. Mit jedem Jahr, das vergeht, auch wenn ein einziges Leben kaum mehr ist als ein Blinzeln, wird dieses Reissen stärker. Jahrhunderte sind bereits vergangen, und die Leere frisst mich auf. So wandle ich, ein Himeros-Jünger, durch Klingsors Zaubergarten und recke meine Seele der blauen Blume entgegen, die meine seltenste Rose ist und die ich doch niemals erreichen kann, wie weit ich ihr auch entgegeneile. Wie sehne ich mich nach barmherzigem Vergessen, nach einem endgültigen Ende meiner Qualen. Mit Freude und mit Jubel würde ich mich dem Tod anvertrauen, bedeutete er doch gleichzeitig ein Ende meines Leides und vielleicht einen Neubeginn. Doch meine Hoffnung ist gleichzeitig mein Verderben, denn sterben kann ich nicht. So bleibt denn meine einzige Begleitung in der Kälte der Ewigkeit die Sehnsucht.


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