Das Glasglockentier
Glasklar, ätherisch, unwirklich erklingt ein Laut in der Nacht. Ein Ton wie von einem Finger, der über die Kante eines Glases streicht. Wohlgeformt, warm, lebendig, erfüllt von Atem, erzeugt in einer Kehle. Es ist nicht sicher auszumachen, welches Lebewesen diesen Laut hervorbringt. Er könnte von einem Vogel stammen, aber da ist dieser Hauch von Atem, der eher an ein Säugetier erinnert. Es ist weniger ein Pfeifen, weniger eine Flöte, eher wie eine Glocke, aber nicht so hart, nicht metallisch, sondern weicher, rund und luftiger, aber gleichzeitig auch klar und rein. Erneut ertönt der Laut, hat sich fortbewegt, die Distanz lautlos überwunden, kein Knacken, kein Trappeln, kein Flügelschlagen. Er klingt fragend, suchend, aber nicht panisch, nicht kläglich, nicht lockend, auch nicht aggressiv. Es gibt Amphibien, die ähnliche Töne erzeugen, doch klingt dies größer, besitzt mehr Resonanzraum und bewegt sich zu schnell fort. Also doch ein Vogel? Dann muss er sehr tief geflogen sein, der Ton kommt nicht er aus der Luft, dafür erscheint er zu bodennahe, aber auch nicht tief über der Erde. Ein drittes Mal ist der Laut zu vernehmen, hat sich erneut fortbewegt. Real und zugleich unwirklich, von dieser Welt und doch nicht von dieser Welt so fühlt sich der Klang an, nicht ängstigend, nicht bedrohlich, aber entrückt, nicht fassbar, fast schon ausgedacht. Ist dieses nächtlich herumstreifende Tier eine Ausgeburt der Fantasie, dem Halbschlaf entsprungen? Nein, das Ereignis wiederholt sich einige Wochen später in ähnlicher Weise, danach jedoch nicht wieder. Recherchen helfen nicht. Es gibt zwar Datenbanken mit Tierlauten, aber wonach soll ich suchen? Ich gehe Vogel-, Amphibien- und Säugetierlaute durch. Nichts kommt dem auch nur nahe. Es ist weder ein Frosch noch eine Unke, auch keine Fledermaus und kein Reh. Auch keine der Vogelstimmen klingt auch nur annähernd ähnlich. Andere Ursachen schließe ich aus. Eine Glasflöte klingt zu luftig, ein Werkzeug zu hart, ein zufälliger erzeugtes Geräusch wäre nicht so lebendig. Ich kann jedoch nicht ausschließen, dass sich Mitten in der Nacht drei Glasvirtuosen in unserem schönen Dorf verteilt haben, um zeitverzögert exakt den gleichen Ton zu erzeugen und dann lautlos zu verschwinden. Beim zweiten Mal war dann anscheinend einer von den dreien verhindert. Oder hat sich ein lautlos fliegender Vogel einen Glasglockenfrosch gegriffen und ihn bodennahe durch die Nacht getragen, zweimal im Abstand von wenigen Wochen? Auch klingt das nicht wirklich plausibel. Bis ich aber per Zufall auf eine Erklärung stoße, wird sich der Urheber nicht eruieren lassen, somit nenne ich ihn bis dahin das Glasglockentier.